Justiz: der unbekannte Ritter Gemeinwohl

Justiz: der unbekannte Ritter Gemeinwohl

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Im litauischen Recht ist das Gemeinwohl bisher nicht erwähnt. 1997 wurde jedoch mit dem Vertag von Amsterdam beschlossen, den Begriff in die Römischen Verträge aufzunehmen, womit er auf europäischer Ebene Bedeutung erlangte. Der kleine baltische Staat, der seit Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union ist, hätte das Konzept demzufolge in seine Gesetzgebung übernehmen müssen.

Dass es sich hierbei um eine juristische Absurdität handelt, ist für die Vereinswelt offensichtlich. Seit der Bestimmung von 2004, auf der das Vereinsrecht basiert, wird “die Verteidigung des Gemeinwohls” als Teil des Aufgabenbereichs der Vereine angesehen. Doch das scheint nicht ausreichend: Akteure der Zivilgesellschaft wollen jetzt ihr eigenes Gesetz zum Gemeinwohl entwerfen. Von Grund auf.

Juristisches Puzzlespiel

2005 trifft eine Kommission von Vertretern aus Vereinen, Parlamentariern, juristischen Vertretern und Delegierten aus den Ministerien zusammen, um die Gesetzesinitiative zu überprüfen. Das Anfangspostulat beschränkt sich darauf, die bereits bestehenden Gesetze zu ergänzen. Aber angesichts der Spannungen, die auf Grund der unterschiedlichen Ansichten vieler Teilnehmer entstehen, wird rasch beschlossen, eine neue Gesetzesvorlage zu verfassen.

Im Dezember 2006 wird die Gesetzesvorlage eingereicht. Im April wird die parlamentarische Kommission, die mit der Überprüfung der Gesetzesstatuten hinsichtlich des Textes und der litauischen Verfassung beauftragt war, neu besetzt, um die Aufnahme neuer Bestimmungen zu ermöglichen. Seitdem tritt man jedoch auf der Stelle: Über den Text wurde bisher immer noch nicht abgestimmt. Niemand weiß, wann und ob das Gesetz überhaupt einmal Realität wird. Die Verbände sorgen sich um die allgemein vorherrschende Gleichgültigkeit.

Sowohl das Gesetzessystem als auch der Gerichtsapparat in Litauen sind äußerst schwerfällig. Diese Tendenz wird zudem durch eine ausgeprägte Hierarchie verstärkt. Daiva Alechnavičienėien, litauische Generalstaatsanwältin, unterstreicht: “Es gibt Streitsachen, in denen bereits 2003 ein Prozess angestrebt wurde und die noch immer nicht vom Tisch sind.”

Hinzu kommt, dass falls ein Gesetzesverstoß festgestellt wird, dieser keineswegs automatisch juristisch verfolgt, sondern der alleinigen Einschätzung der zuständigen Richter überlassen wird. Zudem werden die Kläger dazu verpflichtet, die Zeugen, die zu ihren Gunsten aussagen sollen, zu bezahlen. All dies ergibt einen nicht nur veralteten, sondern auch schadhaften Mix, der noch ein Erbe aus Sowjetzeiten ist.

Ohne Folgen 

Liudvikas Ragauskis, 43 Jahre alt, ist Vorsitzender eines Vereins zum Verbot “illegaler Immobilien” und war Mitglied der mit der Erstellung der Gesetzesvorlage beauftragten Kommission. Tagtäglich führt er einen Kampf, der schon von vornherein zum Scheitern verurteilt scheint. Er kämpft gegen die neuen Bauten, die in Litauen wie Pilze aus dem Boden schießen. Oft sind trotz ungünstiger Voraussetzungen Baugenehmigungen erteilt worden. Zum Teil hat man sich sogar über die in den Baugenehmigungen festgelegten Angaben hinweggesetzt und Gebäuden noch einige zusätzliche Stockwerke hinzugefügt.

Liudvikas ergänzt, man habe ihm schon 50.000 Lita dafür angeboten, dass er bei einem dieser illegalen Bauvorhaben wohlwollendes Stillschweigen bewahrt. “Das ist eine durchaus gängige Methode” sagt er. Auch wenn seiner Ansicht nach nicht die ‘Korruption’ das schwerwiegendste Problem sei, sondern “das fehlende gesellschaftliche Engagement der Litauer”.

Kommunistisches Erbe oder lokale Mentalität? “Die Litauer ergreifen in Dingen, die sie persönlich betreffen, nicht unbedingt die Initiative”, fügt Ragauskis noch hinzu. “Entweder, weil sie nicht sehen, inwiefern das etwas mit ihnen persönlich zu tun haben soll, oder weil es ihnen schlichtweg egal ist.” Ragauskis ergänzt, dass unter den 100 Mitgliedern seines Vereins lediglich fünf oder sechs aktiv sind. In seinen Augen ist das Gesetzesprojekt noch “zu innovativ für die litausiche Gesellschaft”.

Ein Teufelskreis

Während die Verbände immer noch auf der Stelle treten, gibt es noch andere schwierige Punkte auf der Gesetzesagenda. Ragauskis zufolge sei der Text der bestehenden Gesetzesvorlage “unvollständig”. Ein grundlegendes Problem sei, dass dort gar keine Definition des Wortes “Gemeinwohl” gegeben werde. Ein weiteres Problem liegt im Verfahren begründet: Es sei unter Umständen möglich, das gesamte juristische Verfahren zu annullieren, falls den Richtern der vom Kläger vorgetragene Punkt zum Gemeinwohl nicht opportun erscheint. Ihre Einschätzung dürfen sie vollkommen selbstbestimmt abgeben. Sie unterliegt keinen vorgegebenen Kriterien.

Was für ein Interesse hat demnach ein möglicher Kläger, sich in einen Rechtsstreit zu begeben, wenn dieser jederzeit Gefahr läuft, annulliert zu werden? Selbstzensur und Mangel an Legitimität – nach langen Jahren der kommunistischen Unterdrückung sind die Litauer scheinbar noch nicht in der Lage, sich für den eigenen Vorteil einzusetzen und auf ihr Recht zu pochen.

AUTOR Amandine Agic, ÜBERSETZUNG Ulrike Lelickens

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